Kontext von Tunesien

Tunesien (arabisch تونس, DMG Tūnis; amtlich Tunesische Republik, arabisch الجمهورية التونسية, DMG al-ǧumhūriyya at-tūnisiyya) ist ein Staat in Nordafrika. Er besteht aus 24 Gouvernements. Tunesien hat knapp 12 Millionen Einwohner und zählt mit 71 Einwohnern pro km² zu den weniger dicht besiedelten Staaten.

Tunesien grenzt im Norden und Osten an das Mittelmeer (1146 km Küstenlinie), im Westen an Algerien und im Süd-Osten an Libyen. Sein Name ist von dem Namen seiner Hauptstadt Tunis abgeleitet. Tunesien gehört zu den Maghreb-Ländern. Die größte vorgelagerte Insel ist Djerba (514 km²). Das Land ist mit einer Fläche von 163.610 km² ungefähr doppelt so groß wie ÖsWeiterlesen

Tunesien (arabisch تونس, DMG Tūnis; amtlich Tunesische Republik, arabisch الجمهورية التونسية, DMG al-ǧumhūriyya at-tūnisiyya) ist ein Staat in Nordafrika. Er besteht aus 24 Gouvernements. Tunesien hat knapp 12 Millionen Einwohner und zählt mit 71 Einwohnern pro km² zu den weniger dicht besiedelten Staaten.

Tunesien grenzt im Norden und Osten an das Mittelmeer (1146 km Küstenlinie), im Westen an Algerien und im Süd-Osten an Libyen. Sein Name ist von dem Namen seiner Hauptstadt Tunis abgeleitet. Tunesien gehört zu den Maghreb-Ländern. Die größte vorgelagerte Insel ist Djerba (514 km²). Das Land ist mit einer Fläche von 163.610 km² ungefähr doppelt so groß wie Österreich.

Das Land unterlag im Laufe seiner Geschichte dem Einfluss mehrerer Völker. Seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. war es von den Berbern besiedelt. Um 800 v. Chr. gründeten die Phönizier erste Niederlassungen im tunesischen Küstenstreifen. Die Römer gliederten es in ihre Provinz Africa ein. Das Christentum herrschte in der Folge bis zur Arabisierung ab dem 7. Jahrhundert vor. Eine kulturelle Blütezeit erlebte die Region im 12. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert begann die Herrschaft des Osmanischen Reiches, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts andauerte, als das Land französisches Protektorat wurde. Seine Unabhängigkeit erlangte Tunesien im Jahre 1956. Von 1956 bis 2011 wurde es durchgängig autoritär von der Einheitspartei Neo Destour/RCD regiert. Im Zuge der Revolution wurde eine Verfassunggebende Versammlung gewählt, die 2014 eine neue Verfassung verabschiedet hat. Tunesien hatte laut dem von der Zeitschrift The Economist veröffentlichten Demokratieindex von 2014 bis 2020 den Status des einzigen demokratischen Landes in der arabischen Welt inne.

Mehr über Tunesien

Grundinformation
  • Währung Tunesischer Dinar
  • Ursprünglicher Name تونس
  • Anrufcode +216
  • Internet Domäne .tn
  • Speed limit 50
  • Mains voltage 230V/50Hz
  • Democracy index 6.59
Population, Area & Driving side
  • Bevölkerung 11565204
  • Fläche 163610
  • Fahrseite right
Verlauf
  • Vorgeschichte
     
    Umzeichnung der Bestattung eines männlichen Angehörigen der Capsien-Kultur

    Erste Spuren von nomadisch lebenden Jägern und Sammlern aus der Altsteinzeit wurden in der 20 km östlich von Gafsa gelegenen Oase El Guettar gefunden.[1]

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    Vorgeschichte
     
    Umzeichnung der Bestattung eines männlichen Angehörigen der Capsien-Kultur

    Erste Spuren von nomadisch lebenden Jägern und Sammlern aus der Altsteinzeit wurden in der 20 km östlich von Gafsa gelegenen Oase El Guettar gefunden.[1]

    Auf das Ibéromaurusien, eine an der nordafrikanischen Küste verbreitete Kultur, folgte das Capsien. Von dieser Kultur wurden 15.000 Jahre alte Skelette und Werkzeuge gefunden, die darauf hinweisen, dass die Capsien-Menschen neben Steinwerkzeugen auch Nadeln aus Knochen zum Nähen von Kleidung aus Tierhäuten herstellten.

    Während der Jungsteinzeit formte sich die Sahara mit ihrem heutigen Klima. Diese Epoche ist gekennzeichnet von der Einwanderung der Berber. Es entstanden erste Kontakte mit den Phöniziern in Tyros, die gegen Ende der Jungsteinzeit begannen, das heutige Tunesien zu besiedeln und später das Karthagische Reich gründeten.

    Punisches und Römisches Karthago
     
    Punische Stele in Karthago

    Das heutige Tunesien erlebte zu Beginn der geschichtlichen Aufzeichnungen die Gründung von Handelsniederlassungen durch Siedler aus dem östlichen Mittelmeer. Gemäß der Legende war die erste dieser Niederlassungen Utica im Jahr 1101 v. Chr. Im Jahr 814 v. Chr. gründeten aus Tyros kommende phönizische Siedler die Stadt Karthago. Nach der Legende war es die Königin Élyssa, die Schwester des Königs von Tyr, Pygmalion, welche die Stadt gründete.

    Karthago wurde innerhalb von 150 Jahren zur größten Macht des westlichen Mittelmeeres. Die Einflussnahme geschah teils durch Kolonisierung, größtenteils jedoch durch Handelsniederlassungen und Verträge. Diese Macht und das hohe landwirtschaftliche Potential des karthagischen Mutterlandes führten dazu, dass das Interesse des jungen, erstarkenden Römischen Reiches geweckt wurde und es kam zur Konfrontation, die in den drei Punischen Kriegen gipfelte. Karthago konnte mit seinen unter anderen von Hannibal geführten Truppen während des Zweiten Punischen Krieges (218–201 v. Chr.) das Römische Reich mehrmals an den Rand einer Niederlage bringen. Am Ende des Dritten Punischen Krieges (149–146 v. Chr.) wurde die Stadt Karthago drei Jahre belagert und letzten Endes zerstört. Das Gebiet des heutigen Tunesien wurde Teil der römischen Provinz Africa mit Hauptstadt Utica. Im Jahr 44 v. Chr. beschloss Caesar, eine Colonia in Karthago zu gründen, was jedoch von Augustus erst mehrere Jahrzehnte später verwirklicht wurde, und im Jahr 14 wurde Karthago Hauptstadt von Africa.

     
    Archäologische Stätte von Karthago

    Africa wurde, neben Ägypten, zu einem der bedeutendsten Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte Roms, vor allem lieferte Africa Getreide und Olivenöl. Es entstand ein dichtes Netz an römischen Siedlungen, deren Ruinen bis heute noch zu sehen sind, etwa Dougga (römisch Thugga), Sbeitla (Sufetula), Bulla Regia, El Djem (Thysdrus) oder Thuburbo Majus. Africa war, zusammen mit Numidien, für sechs Jahrhunderte lang eine sehr wohlhabende Provinz, wo etwa die Mosaikkunst blühte. Dank seiner Rolle als Knotenpunkt der Antike siedelten sich in der Folge auch Juden und die ersten Christen im heutigen Tunesien an.

    Christianisierung

    Das Christentum breitete sich schnell aus, vor allem durch die Ankunft von Siedlern, Händlern und Soldaten. Bekanntheit erlangte Karthago diesbezüglich, dass hier der einflussreiche christliche Apologet Tertullian lebte und wirkte, so dass Nordafrika sich in der nächsten Zeit zu einem von mehreren Zentren des Christentums entwickelte. Die heidnische Bevölkerung widersetzte sich zunächst dem neuen Kult, später wurde die Christianisierung auch mit Gewalt durchgesetzt. Ab 400 durchdrang das Christentum durch die Aktivitäten von Augustinus von Hippo und seiner Bischöfe sämtliche Gesellschaftsschichten, indem sie die städtische Aristokratie und die Landbesitzer auf ihre Seite brachten. Krisen wie etwa das donatistische Kirchenschisma, das mit dem Konzil von Karthago abgewendet wurde, überwand das Christentum dank der guten wirtschaftlichen und sozialen Lage schnell. Davon zeugen Ruinen von Bauwerken wie die Basilika von Karthago oder die zahlreichen Kirchen, die auf heidnischen Tempeln (wie etwa in Sufetula) erbaut wurden.

    Am 19. Oktober 439 eroberten die Vandalen und Alanen Karthago und errichteten ein Königreich, das ein Jahrhundert dauerte. Die Vandalen gehörten dem Arianismus an, einer Glaubensrichtung, die auf dem Ersten Konzil von Nicäa zur Häresie erklärt worden war. Sie forderten von der zumeist katholischen Bevölkerung die Treue zu ihrem Glauben und antworteten auf deren Weigerung mit Gewalt. Besitztümer der katholischen Kirche wurden beschlagnahmt. Die Kultur der ansässigen Bevölkerung blieb aber unangetastet und auch das Christentum florierte, soweit es die neuen Herrscher tolerierten. Das Vandalenreich ging nach der verlorenen Schlacht bei Tricamarum unter, bei der die Vandalen unter König Gelimer gegen die oströmischen Truppen von Belisar unterlagen. Kaiser Justinian I. machte aus Karthago eine Diözese und 590 das Exarchat von Karthago, das gegenüber der kaiserlichen Zentralmacht hohe zivile und militärische Autonomie besaß. Heiden, Juden und Häretiker wurden bald darauf aber von der byzantinischen Zentralgewalt, die das Christentum zur Staatsreligion erheben wollte, verfolgt.

    Islamisierung und Arabisierung
     
    Ribat von Monastir

    Die ersten arabischen Vorstöße auf das heutige Tunesien begannen im Jahre 647. 661 wurde in einer zweiten Offensive Bizerte erobert; die Entscheidung fiel nach der dritten, 670 von Uqba ibn Nafi angeführten Offensive und der Gründung von Kairouan, die später Ausgangspunkt für die arabischen Expeditionen auf den nördlichen und westlichen Maghreb wurden. Der Tod von Uqba ibn Nafi 693 führte nur zu einem vorübergehenden Stillstand der arabischen Eroberung; 695 nahm der Ghassaniden-General Hassan Ibn Numan Karthago ein. Die Byzantiner, deren Seestreitkräfte den Arabern überlegen waren, griffen 696 Karthago an und nahmen es ein, während 697 die Berber unter al-Kahina die Araber in einer Schlacht besiegten. 698 jedoch eroberten die Araber Karthago erneut und besiegten auch al-Kahina.

    Anders als vorherige Eroberer gaben sich die Araber nicht damit zufrieden, nur die Küstengebiete zu okkupieren, sondern machten sich auch an die Eroberung des Landesinneren. Nach einigem Widerstand konvertierten die meisten Berber zum Islam, vor allem durch die Aufnahme in die Streitkräfte der Araber. In den neugebauten Ribats wurden religiöse Schulen eingerichtet. Gleichzeitig jedoch schlossen sich zahlreiche Berber der Glaubensrichtung der Charidschiten an, die die Gleichheit aller Muslime unabhängig von ihrer Rassen- oder Klassenzugehörigkeit verkündigte. Das heutige Tunesien blieb eine Provinz der Umayyaden, bis es 750 an die Abbasiden fiel. Zwischen 767 und 776 wurde das gesamte Territorium Tunesiens von den berberischen Charidschiten unter Abu Qurra beherrscht, die sich später in ihr Königreich Tlemcen zurückziehen mussten.

    Im Jahre 800 übergab der Abbasidenkalif Harun ar-Raschid seine Macht über Ifrīqiya dem Emir Ibrahim ibn al-Aghlab und übertrug ihm auch das Recht, seine Funktion zu vererben. Somit wurde die Aghlabiden-Dynastie gegründet, die ein Jahrhundert lang den mittleren und östlichen Maghreb beherrschte. Das heutige Tunesien wurde zu einem bedeutenden Kulturraum mit der Stadt Kairouan und seiner Großen Moschee im Mittelpunkt. Tunis wurde bis zum Jahr 909 die Hauptstadt des Emirates.[2]

    Das Aghlabiden-Emirat verschwand innerhalb von 15 Jahren (893–909) durch die Aktivitäten des proselytischen Ismailiten Abū ʿAbdallāh asch-Schīʿī, unterstützt durch eine fanatisierte Armee, die sich aus dem berberischen Kutāma-Stamm rekrutierte.[3] Im Dezember 909 rief sich Abdallah al-Mahdi zum Kalifen aus und gründete damit die Fatimiden-Dynastie. Gleichzeitig erklärte er die sunnitischen Umayyaden und die Abbasiden zu Usurpatoren. Der Fatimidenstaat breitete seinen Einfluss auf ganz Nordafrika aus, indem er die Karawansereien und damit die Handelswege mit Schwarzafrika unter seine Kontrolle brachte. Eine letzte große Revolte des charidschitischen Banu-Ifran-Stammes unter Abu Yazid konnte niedergeschlagen werden. Der dritte Fatimidenkalif Ismail al-Mansur verlegte die Hauptstadt nach Kairouan und eroberte 948 Sizilien. 972, drei Jahre nachdem die Region vollständig erobert war, verlegte die Fatimiden-Dynastie ihre Basis in östliche Richtung. Kalif Abu Tamim al-Muizz legte die Herrschaft über Ifriqiya in die Hände von Buluggin ibn Ziri, der die Ziriden-Dynastie gründete. Die Ziriden erlangten schrittweise die Unabhängigkeit vom Fatimiden-Kalifen, was mit einem kompletten Bruch mit den Fatimiden endete. Diese rächten sich für den Verrat damit, dass sie Beduinenstämme (die Banū Hilāl und Banu Sulaym) aus Ägypten mit Eigentumstiteln auf Land in Ifriqiya ausstatteten und gegen die Ziriden ziehen ließen. Kairouan wurde in der Folge nach fünfjährigem Widerstand erobert und geplündert. 1057 flohen die Ziriden nach Mahdia, während die Eroberer in Richtung des heutigen Algerien weiterzogen. Die Ziriden versuchten danach erfolglos, das inzwischen von den Normannen besetzte Sizilien zurückzuerobern, und 90 Jahre lang versuchten sie, Teile ihres früheren Territoriums zurückzugewinnen. Sie verlegten sich auf Piraterie, um sich am Seehandel zu bereichern.

    Diese Migration war das entscheidende Ereignis in der Geschichte des mittelalterlichen Maghreb. Sie hat das traditionelle Gleichgewicht zwischen nomadischen und sesshaften Berbern zerstört und zu einer Bevölkerungsdurchmischung geführt. Das Arabische, das bis dahin nur von den städtischen Eliten und am Hof gesprochen wurde, begann, die berberischen Dialekte zu beeinflussen.

    Ab dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts war Tunesien häufigen Angriffen der Normannen aus Sizilien und Süditalien ausgesetzt. Das Territorium von Ifriqiya wurde gleichzeitig (1159) vom Almohaden-Sultan Abd al-Mu'min von Westen aus erobert. Wirtschaft und Handel blühten auf; Handelsbeziehungen wurden mit den wichtigsten Städten am Mittelmeer aufgenommen. Der wirtschaftliche Aufschwung bewirkte, dass das almohadische Jahrhundert als goldenes Zeitalter des Maghreb in die Geschichte einging, als sich große Städte mit prächtigen Moscheen entwickelten und Wissenschaftler wie Ibn Chaldūn arbeiteten.

    Die Almohaden legten die Verwaltung des heutigen tunesischen Gebiets in die Hände von Abu Muhammad Abdalwahid, doch bereits sein Sohn Abu Zakariya Yahya I. löste sich 1228 ab und gründete die Dynastie der Hafsiden. Zwischen 1236 und 1574 regierte somit die erste tunesische Dynastie. Die Hauptstadt wurde nach Tunis verlegt, das sich dank des Seehandels schnell entwickelte.

    Osmanische Herrschaft

    Ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verloren die Hafsiden langsam die Kontrolle über ihr Territorium und gerieten, speziell nach der verlorenen Schlacht von Kairouan (1348) unter den Einfluss der Meriniden des Abu Inan Faris. Die Pest von 1384 traf Ifriqiya mit voller Wucht und trug zum Bevölkerungsschwund seit den Invasionen durch die Banū Hilāl bei. Gleichzeitig begannen Mauren und Juden aus Andalusien einzuwandern. Die Spanier unter Ferdinand II. und Isabella I. eroberten die Städte Mers-el-Kébir, Oran, Bejaia, Tripolis und die Algier vorgelagerte Insel. Die Hafsidenherrscher sahen sich genötigt, die Hilfe der Korsarenbrüder Khair ad-Din Barbarossa und Arudsch in Anspruch zu nehmen.

    In ihrer Bedrängnis erlaubten die Hafsiden den Korsaren, den Hafen von La Goulette und die Insel Djerba als Basis zu benutzen. Nach dem Tod von Arudsch machte sich sein Bruder Khair ad-Din Barbarossa zum Vasallen des Sultans von Istanbul und wurde von ihm zum Admiral des Osmanischen Reiches ernannt. Er eroberte 1534 Tunis, musste sich aber 1535 aus der Stadt zurückziehen, nachdem diese durch eine Armada von Karl V. im Tunisfeldzug erobert worden war. 1574 wurde Tunis wieder von den Osmanen, diesmal unter Führung von Kılıç Ali Paşa, erobert. Tunesien wurde damit eine Provinz des osmanischen Reiches. Die neuen Herrscher hatten aber wenig Interesse an Tunesien und ihre Bedeutung nahm ständig auf Kosten von lokalen Machthabern ab; es waren nur 4000 Janitscharen in Tunis stationiert. Im Jahre 1590 kam es zu einem Janitscharenaufstand, als dessen Resultat ein Dey an die Staatsspitze gesetzt wurde. Ihm war ein Bey unterstellt, der für die Verwaltung des Landes und die Steuereintreibung verantwortlich war. Der den Bey gleichgestellte Pascha hatte nur die Aufgabe, den osmanischen Sultan zu repräsentieren. Im Jahre 1612 gründete Murad Bey die Dynastie der Muraditen, am 15. Juli 1705 machte Husain I. ibn Ali sich zum Bey von Tunis und gründete die Dynastie der Husainiden. Unter den Husainiden erreichte Tunesien einen hohen Grad an Selbständigkeit, obwohl es offiziell noch immer osmanische Provinz war. Ahmad I. al-Husain, der von 1837 bis 1855 regierte, leitete einen Modernisierungsschub ein mit wichtigen Reformen wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Annahme einer Verfassung.

    Französisches Protektorat, Unabhängigkeitskampf
     
    Goldmünze zu 10 Francs aus der Zeit des französischen Protektorats (1891)

    Wirtschaftliche Schwierigkeiten, hervorgerufen durch eine ruinöse Politik der Beys, hohe Steuern und ausländische Einflussnahme zwangen die Regierung 1869, den Staatsbankrott zu erklären und eine internationale britisch-französisch-italienische Finanzkommission ins Leben zu rufen. Aufgrund seiner strategischen Lage wurde Tunesien schnell zum Zielpunkt der französischen und italienischen Interessen. Die Konsuln Frankreichs und Italiens versuchten, aus den finanziellen Schwierigkeiten der Beys ihre Vorteile zu ziehen, wobei Frankreich darauf vertraute, dass sich England neutral verhalten würde (England hatte kein Interesse daran, dass Italien den Seeweg über den Sueskanal in seine Kontrolle bringen würde), und auch darauf, dass Bismarck die Aufmerksamkeit Frankreichs von der Elsaß-Lothringen-Frage ablenken wollte.[4][5]

    Einfälle von Plünderern aus der Kroumirie in das Territorium Algeriens lieferten Jules Ferry den Vorwand, Tunesien zu erobern. Im April 1881 drangen französische Truppen in Tunesien ein und eroberten innerhalb von drei Wochen Tunis, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Am 12. Mai 1881 wurde Bey Muhammad III. al-Husain zur Unterzeichnung des Bardo-Vertrages gezwungen, womit Tunesien ein französisches Protektorat wurde. Aufstände rund um Kairouan und Sfax wurden einige Monate später schnell erstickt. Der Vertrag von la Marsa vom 8. Juni 1883 räumte Frankreich weitreichende Befugnisse in der Außen-, Verteidigungs- und Innenpolitik Tunesiens ein. Damit gliederte Frankreich das Land in sein Kolonialreich ein und vertrat es in der Folge auf dem internationalen Parkett. Der Bey musste fast seine gesamte Macht an den Generalresidenten abgeben. Auf wirtschaftlichem Gebiet gab es Fortschritte:

    Banken und Unternehmen wurden gegründet, die landwirtschaftliche Nutzfläche wurde erweitert und für den Anbau von Getreide und Oliven genutzt, 1885 wurden beträchtliche Phosphatvorkommen in der Region Seldja entdeckt. Nach dem Bau einiger Eisenbahnlinien (siehe Geschichte der Eisenbahn in Tunesien) begannen Phosphatabbau und Eisenerzabbau. Ein zweisprachiges Bildungssystem wurde eingeführt, das es den Eliten Tunesiens erlaubte, sich auf Arabisch und Französisch fortzubilden.
     
    Prozess nach der Djellaz-Affäre, 1911

    Am Beginn des 20. Jahrhunderts begann der Widerstand gegen die französische Besatzung. 1907 gründeten Béchir Sfar, Ali Bach Hamba und Abdeljelil Zaouche die reformistische Intellektuellenbewegung Jeunes Tunisiens. Diese nationalistische Strömung zeigte sich in der Djellaz-Affäre 1911 und im Boykott der Straßenbahn von Tunis 1912. Von 1914 bis 1921 herrschte in Tunesien der Ausnahmezustand und jegliche antikolonialistische Presseäußerung wurde verboten. Trotzdem bekam die nationale Bewegung mehr Zulauf und zu Ende des Ersten Weltkriegs wurde von einer Gruppe um Abdelaziz Thâalbi die Destur-Partei gegründet. Sie verkündete nach ihrer offiziellen Gründung am 4. Juni 1920 ein Acht-Punkte-Programm. Der Anwalt Habib Bourguiba, der schon vorher in Zeitschriften wie La Voix du Tunisien oder L’Étendard tunisien das Protektoratsregime angeprangert hatte, gründete 1932 zusammen mit Tahar Sfar, Mahmoud Materi und Bahri Guiga die Zeitschrift L’Action Tunisienne, die neben der Unabhängigkeit auch für den Laizismus eintrat. Diese Position führte zur Spaltung der Destour-Partei auf dem Kongress von Ksar Hellal am 2. März 1934:

    Der islamistische Flügel blieb beim alten Namen Destour; der modernistische und laizistische Flügel nannte sich Néo-Destour. Er verlieh sich eine moderne Organisation nach dem Vorbild europäischer sozialistischer Parteien und beschloss als Ziel, die Macht zu ergreifen, um die Gesellschaft zu verändern.

    Nach dem Scheitern von Verhandlungen mit der Regierung Léon Blum kam es 1937 zu einigen blutigen Zwischenfällen, die in den gewaltsam niedergeschlagenen Unruhen vom April 1938 gipfelten. Diese Unterdrückung führte dazu, dass der Néo-Destour seinen Kampf im Untergrund fortführte. 1940 lieferte das Vichy-Regime Bourguiba auf Verlangen Mussolinis an Italien aus, der sich erhoffte, damit die Résistance in Nordafrika zu schwächen. Bourguiba rief jedoch am 8. August 1942 zur Unterstützung für die Alliierten auf. Kurz darauf wurde das Land Schauplatz der Schlacht um Tunesien, an deren Ende die Truppen der Achsenmächte am 11. Mai 1943 zur Kapitulation am Kap Bon gezwungen wurden.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der bewaffnete Widerstand Teil der Strategie zur nationalen Befreiung. Verhandlungen mit der französischen Regierung wurden geführt und Robert Schuman deutete 1950 sogar eine schrittweise Unabhängigkeit Tunesiens an; nationalistische Auseinandersetzungen führten 1951 jedoch zum Scheitern dieser Verhandlungen.

     
    Habib Bourguiba in Bizerte (1952)

    Nach der Ankunft des neuen Generalresidenten, Jean de Hauteclocque, am 13. Januar 1952 und der Verhaftung von 150 Destour-Mitgliedern am 18. Januar begann eine bewaffnete Revolte, während sich die Fronten auf beiden Seiten verhärteten. Die Ermordung des Gewerkschafters Farhat Hached durch die kolonialistische Extremistenorganisation La Main Rouge führte zu Kundgebungen, Unruhen, Streiks und Sabotageaktionen, wobei das Ziel immer mehr die Strukturen der Kolonisation und Regierung wurden. Frankreich mobilisierte 70.000 Soldaten, um die tunesischen Guerilla-Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Diese Situation wurde erst mit der Zusicherung innerer Autonomie an Tunesien durch Pierre Mendès France am 31. Juli 1954 entschärft. Am 3. Juli 1955 wurden schließlich von Tunesiens Premierminister Tahar Ben Ammar und seinem französischen Amtskollegen Edgar Faure die französisch-tunesischen Verträge unterzeichnet. Trotz des Widerstandes von Salah Ben Youssef, der in der Folge aus der Neo-Destour-Partei ausgeschlossen wurde, wurden die Verträge vom Kongress des Neo-Destour am 15. November in Sfax ratifiziert. Nach neuen Verhandlungen erkannte Frankreich am 20. März 1956 die Unabhängigkeit Tunesiens an, wobei es die Militärbasis in Bizerte behielt.

    Tunesien nach seiner Unabhängigkeit

    Am 25. März 1956 wurde die konstituierende Nationalversammlung des Landes gewählt. Die Néo-Destour gewann alle Sitze, und Bourguiba übernahm den Parlamentsvorsitz. Am 11. April wurde er von Lamine Bey zum Premierminister ausgerufen. Am 13. August wurde das fortschrittliche tunesische Personenstandsgesetz erlassen. Am 25. Juli 1957 wurde Lamine Bey abgesetzt, die Monarchie abgeschafft und Tunesien eine Republik. Bourguiba wurde zum Präsidenten proklamiert und am 8. November 1959 erstmals auch vom Volk gewählt.

    Die Rechtsgrundlagen der Verfassung orientierten sich am französischen Recht. Das aktive und passive Frauenwahlrecht wurde am 1. Juni 1959 eingeführt.[6] Auf der Basis einer Verordnung übten Frauen im Mai 1957 erstmals bei Stadtratswahlen das aktive und passive Wahlrecht aus.[7]

    Der Islam war Staatsreligion (Artikel 1); Tunesien war aber das einzige arabische Land, das das islamische Rechtssystem Scharia in seiner Verfassung vom 1. Juni 1959 abgeschafft hatte. Lediglich Artikel 38 der tunesischen Verfassung schrieb fest, dass der Präsident ein Muslim sein musste. Nach der Unabhängigkeit waren die Frauen im Familienrecht (Eheschließung, Scheidung, Sorgerecht) den Männern gleichgestellt worden. Tunesien verfügte über ein Parlament, das aus zwei Kammern bestand:

    Die Abgeordnetenkammer (Chambre des députés) mit für fünf Jahre gewählten Mitgliedern. Das Wahlgesetz sah vor, dass mindestens 20 % der Parlamentssitze der Opposition zustanden Die (erst seit 2005 existierende) Rätekammer (Chambre des conseillers) mit für sechs Jahre gewählten Räten. Die Räte wurden indirekt, d. h. von der Abgeordnetenkammer, dem Präsidenten oder Gemeinderäten ernannt. Die einzige in dieser Kammer vertretene Partei war die 1988 gegründete Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD). Die Gesetzesinitiative lag beim Präsidenten oder bei der Abgeordnetenkammer; in der Praxis wurde sie meist vom Präsidenten wahrgenommen.[8]
     
    Offizielles Foto von Habib Bourguiba

    Im Jahr 1958 kam es zu einem internationalen Zwischenfall mit vielen zivilen Opfern, als die Franzosen den Grenzort Sakiet Sidi Youssef als Vergeltungsmaßnahme gegen von Tunesien aus operierende Kämpfer der FNL im Rahmen des Algerienkrieges bombardierten. Im Jahr 1961, als das Ende des Algerienkrieges absehbar war, forderte Tunesien die Rückgabe der Militärbasis von Bizerte. Die folgende Bizerte-Krise forderte etwa 1000 Todesopfer, davon die Mehrheit Tunesier. Sie endete mit der Rückgabe der Basis am 15. Oktober 1963.

    Nach der Ermordung von Salah Ben Youssef, dem wichtigsten Oppositionellen seit 1955, sowie des Verbots der Kommunistischen Partei am 8. Januar 1963 wurde die tunesische Republik zu einem von der Néo-Destour geführten Einparteienstaat. Auch ihre Nachfolgerin, die 1988 gegründete Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD), war bis Januar 2011 die dominierende Partei. Sie entsandte zuletzt (2010) 152 der 189 Parlamentarier.

    Im März 1963 leitete Premierminister Ahmed Ben Salah eine sozialistische Politik ein, unter der praktisch die gesamte tunesische Wirtschaft verstaatlicht wurde. Bereits 1969 wurde Ben Salah jedoch entlassen, nachdem es zu Unruhen wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft gekommen war; das sozialistische Experiment war damit auch beendet. Die schwächelnde Wirtschaft und der von Muammar al-Gaddafi gepredigte Panarabismus führten zu einem 1974 gestarteten politischen Projekt, das Tunesien und Libyen unter dem Namen Arabische Islamische Republik vereinigen sollte. Das Projekt wurde jedoch nach nationalen und internationalen Spannungen wieder fallengelassen.

    Die Verurteilung Ben Salahs zu einer hohen Gefängnisstrafe leitete eine Periode ein, in welcher der durch Ahmed Mestiri angeführte liberale Flügel der mittlerweile in Sozialistische Destur-Partei umbenannten Partei die Oberhand gewann. Bourguiba wurde 1975 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt, der Gewerkschaftsbund UGTT gewann während der Regierung von Hédi Nouira eine gewisse Autonomie, und die Tunesische Menschenrechtsliga konnte 1977 gegründet werden. Die erwachende Zivilgesellschaft konnte auch durch die Gewaltakte gegen die UGTT am Schwarzen Dienstag des Januar 1978 und die Angriffe auf die Bergbaustadt Gafsa im Januar 1980 nicht mehr mundtot gemacht werden.

    Zu Beginn der 1980er Jahre geriet das Land in eine politische und soziale Krise, deren Ursachen in Nepotismus und Korruption, in der Lähmung des Staates angesichts der sich verschlechternden Gesundheit Bourguibas, in Nachfolgekämpfen und einer generellen Verhärtung des Regimes zu suchen sind. Im Jahre 1981 erweckte die teilweise Wiederherstellung des pluralistischen Systems Hoffnungen, die jedoch bereits mit der Wahlfälschung im November desselben Jahres zerstört wurden. Die blutige Niederschlagung der Brot-Unruhen im Dezember 1983, die erneute Destabilisierung der UGTT und die Verhaftung ihres Vorsitzenden Habib Achour trugen dann zum Sturz des alternden Präsidenten und zum sich verstärkenden Aufkommen des Islamismus bei.

    Am 7. November 1987 setzte Ministerpräsident Zine el-Abidine Ben Ali den Präsidenten Bourguiba aufgrund von Senilität ab, was von der Mehrheit des politischen Spektrums begrüßt wurde. Im Dezember 1987 entließ Ben Ali sechs der neun Politbüromitglieder der regierenden Parti Socialiste Destourien (PSD) und ersetzte sie durch persönliche Vertraute. Nach dem Machtwechsel kehrten auch mehrere Exilpolitiker nach Tunesien zurück. Ende 1987 wurden 2500 Gefangene, darunter auch 600 islamische Fundamentalisten aus den Gefängnissen freigelassen. Außenpolitisch setzte Ben Ali auf eine engere Zusammenarbeit mit den Maghreb-Staaten und nahm auch die 1985 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Libyen wieder auf.

     
    Zine el-Abidine Ben Ali, Präsident Tunesiens 1987 bis 2011

    Ben Ali wurde am 2. April 1989 mit 99,27 % der Stimmen gewählt und schaffte es in der Folge, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Ben Ali bekämpfte den radikalen Islamismus aktiv und ersparte Tunesien somit die Gewalt, die das benachbarte Algerien erschütterte; die Ennahda-Partei wurde neutralisiert, zehntausende militante Islamisten verhaftet und in zahlreichen Prozessen zu Beginn der 1990er Jahre verurteilt. Der führende Flügel der Ennahda-Bewegung lebte im Exil in Frankreich und Großbritannien.[9] Die laizistischen Oppositionellen gründeten 1988 mit dem Pacte national eine Plattform mit dem Ziel, das Regime zu demokratisieren. Die politische Opposition und Nicht-Regierungsorganisationen begannen derweil, das Regime der Einschränkung von Bürgerrechten zu beschuldigen, weil es die Repression über die Bekämpfung des radikalen Islamismus hinaus ausweitete. In den Präsidentschaftswahlen 1994 wurde Ben Ali mit 99,91 % der Stimmen wiedergewählt; im Jahr 1995 unterzeichnete er ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. Die Präsidentschaftswahl am 24. November 1999 war die erste pluralistische Wahl in der Geschichte des Landes, wurde jedoch von Ben Ali mit einem ähnlichen Stimmenanteil wie in den vorangegangenen Wahlen gewonnen. Die Verfassungsänderung des Jahres 2002 steigerte noch den Machtumfang des Präsidenten. Im selben Jahr meldete sich der islamische Terrorismus mit dem Anschlag auf die al-Ghriba-Synagoge zu Wort.

    2009 wurden die Bürger Tunesiens in ihrem Recht, die Regierung abzuwählen, und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung erheblich eingeschränkt. Die Regierung führte strenge Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit im Vorfeld der Wahl im Oktober 2009 ein. Öffentliche Kritik wurde nicht geduldet. Es gab zahlreiche Berichte darüber, dass oppositionelle Bürger durch strafrechtliche Ermittlungen, willkürliche Verhaftungen, Reisebeschränkungen und Kontrollen gezielt eingeschüchtert wurden, um Kritik zu verhindern. Lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen berichteten, dass Sicherheitskräfte Gefangene misshandelten. Präsident Zine el-Abidine Ben Ali wurde zuletzt im Oktober 2009 mit 89,28 Prozent Stimmenanteil im Amt bestätigt; die nächste Präsidentschaftswahl sollte Ende des Jahres 2014 stattfinden.[10] Zine el-Abidine Ben Ali wurde aufgrund des öffentlichen Drucks durch die massiven Proteste ab Dezember 2010 gestürzt. Nach seiner Flucht nach Saudi-Arabien übernahm Parlamentspräsident Fouad Mebazaa am 14. Januar 2011 vorläufig die Amtsgeschäfte.

    Revolution und neue Verfassung (ab 2010)

    Am 4. Januar 2011 starb in einem Krankenhaus in Tunis Mohamed Bouazizi, ein 26-jähriger Mann, an den Verletzungen, die er sich in der Provinzhauptstadt Sidi Bouzid bei einer Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 zugefügt hatte. Der Gemüsehändler hatte sich selbst vor dem Gouvernementsgebäude in Brand gesetzt, um gegen die Konfiszierung seines Obst- und Gemüsestandes durch die Polizei zu protestieren.[11] Es folgten Solidaritätskundgebungen im ganzen Land, die sich zu regimekritischen Kundgebungen ausweiteten. Forderungen nach Presse- und Meinungsfreiheit mischten sich mit Kritik an Korruption und Zensur. Der Ärger der Tunesier richtete sich auch gegen die Kleptokratie in der Umgebung Ben Alis, insbesondere durch die zahlreichen Familienmitglieder seiner Frau, Angehörige der Familie Trabelsi, die aufgrund von politischer Einflussnahme wichtige Unternehmen in Tunesien in Besitz genommen haben.[12]

     
    Graffiti unter der Stadtautobahn von Tunis

    Während der Unruhen kam es im Januar 2011 zur Verhängung einer Ausgangssperre über die Hauptstadt und Teile ihrer Vororte. Präsident Ben Ali reagierte auf die Unruhen mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes. Er löste die Regierung auf und kündigte vorgezogene Neuwahlen an, bevor er, aufgrund immer lauter werdender Proteste, am 14. Januar 2011 fluchtartig das Land verließ.[13] Die Amtsgeschäfte wurden vom Verfassungsrat interimistisch auf den Parlamentspräsidenten Fouad Mebazaa übertragen, nachdem sie kurzzeitig durch den Premierminister Mohamed Ghannouchi geführt wurden.[14] Die von Ghannouchi gebildete Übergangsregierung kündigte Pressefreiheit und die Freilassung aller politischen Gefangenen an.[15] Am 3. Februar 2011 kündigte Interimspräsident Mebazaâ in einer Rede an die Nation die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung an, die den „endgültigen Bruch“ mit dem Ben-Ali-System einleiten sollte.[16] Die tunesische Volkserhebung löste als „Arabischer Frühling“ im fast gesamten arabischen Raum ähnliche Bewegungen aus, die unter anderem in Libyen und Ägypten die dortigen Machthaber stürzten.

    Am 23. Oktober 2011 fanden die ersten freien Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung statt,[17] aus denen die islamistische Partei Ennahda als stärkste mit 90 der 217 Sitze hervorging.[18] Die Versammlung trat am 22. November 2011 erstmals zusammen. Mit Hilfe der Kongresspartei wurde Moncef Marzouki am 12. Dezember 2011 zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Er ernannte am 24. Dezember Hamadi Jebali zum Ministerpräsidenten.

    In der Verfassunggebenden Versammlung waren u. a. folgende Parteien vertreten:

    die islamisch geprägte Ennahda-Bewegung mit 90 der 217 Sitze der sozialliberale Kongress für die Republik (CPR) mit 29 Sitzen die populistische Volkspetition für Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung mit 26 Sitzen das sozialdemokratische Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit (Ettakatol – FDTL) mit 20 Sitzen die säkulare und liberale Progressive Demokratische Partei (PDP) mit 16 Sitzen der linksgerichtete, säkulare Demokratisch-Modernistische Pol inklusive der postkommunistischen Ettajdid-Bewegung, mit fünf Sitzen die Partei Die Initiative, eine faktische Nachfolgepartei der verbotenen RCD, die das alte Ben-Ali-System vertritt, mit fünf Sitzen die bürgerlich-liberale Partei Afek Tounes mit vier Sitzen und die Tunesische Kommunistische Arbeiterpartei mit drei Sitzen

    Die Ennahda-Bewegung wurde auch nach ihrem Wahlsieg zur Verfassungsgebenden Versammlung differenziert eingeschätzt: Deren Mitglieder seien „bürgerlich-konservative Muslime“, „moderate Islamisten“ oder „militante Islamisten“. Zwar hatte die Ennahda die Aktionen der Islamisten stets verurteilt und ihr Wahlprogramm war moderat verfasst (z. B. Geschlechtergerechtigkeit), doch befürchteten nicht wenige Tunesier, dass diese Forderung als Deckmantel nach einem Wahlsieg abgelegt werden könnte.[19]

    2012/13 kam es zu Übergriffen auf Abgeordnete und Politiker, die nicht der Ennahda-Partei angehörten. Die Ermordung des linken Oppositionspolitikers Chokri Belaïd am 6. Februar 2013, eines prominenten Kritikers der Ennahda-Partei, und Mohamed Brahmis am 15. Juli 2013 führten zu Massendemonstrationen gegen die Regierungspartei. Auch viele Frauen fühlten sich nach dem Sieg dieser Partei in ihren Rechten gefährdet, die ihnen schon Bourguiba 1956 und danach Ben Ali zugestanden hatten. So sollten sie zum Beispiel dem Mann nicht mehr „gleichgestellt“ sein, sondern ihn „ergänzen“ (Verfassungsentwurf vom August 2012).[20] Dagegen gab es Demonstrationen bis ins Jahr 2013. Ministerpräsident Jebali war bereits am 19. Februar zurückgetreten. Sein Nachfolger wurde der bisherige Innenminister Ali Larajedh, der ein Jahr später, am 29. Januar 2014, im Rahmen eines nationalen Dialogs Mehdi Jomaâ und dessen Regierung von Technokraten Platz machte. Seit Ende 2014 war Beji Caid Essebsi erster demokratisch gewählter Präsident eines arabischen Landes[21]; er ernannte am 5. Januar 2015 Habib Essid zum Premierminister.[22] Am 25. Juli 2019 starb Essebsi im Amt.

    Am 7. Februar 2014 wurde die neue Verfassung, auf die sich am 27. Januar eine Mehrheit von 200 Abgeordneten (von insgesamt 216) aus fast allen Parteien geeinigt hatte, feierlich verabschiedet. Sie garantiert die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichstellung von Mann und Frau und ist zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung „einzigartig in der arabischen Welt“.[23]

    Die Machtverteilung zwischen Präsident und Premierminister soll ein autokratisches Regime künftig verhindern. Ein neu zu schaffender Verfassungsgerichtshof soll über die Rechtmäßigkeit zukünftiger Gesetzesreformen wachen. Damit soll die Gewaltenteilung in Zukunft geschützt werden.

    Einer der größten Streitpunkte war bis zum Schluss die Rolle der Religion im neuen Tunesien. Während die Präambel und Artikel 1 der Verfassung zwar den Islam erwähnen, ohne auf seine Bedeutung für den Staat einzugehen, wird der Text an einigen Stellen konkreter. Der Artikel 6 garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit und sogar – undenkbar in anderen arabischen Ländern – das Recht auf gar keinen Glauben, um jedoch nur einen Halbsatz später festzulegen, dass der Staat „das Heilige“ beschützt. Der Islam ist Staatsreligion, aber die Scharia nicht Rechtsquelle.[24]

    Am 1. Juni 2014 nahm die Kommission für Wahrheit und Würde ihre Arbeit auf, die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1955 und 2013 aufarbeiten sollte. Ihren Abschlussbericht präsentierte sie am 26. März 2019.

    Tunesien wurde 2015 auf der Freedom Map der Organisation Freedom House 2015 als erstes arabisches Land mit dem Status „frei“ bewertet.[25] 2017 erhielt es die Bestnote 1 bei der Bewertung der politischen Rechte.[26] 2015 wurde das Tunesische Quartett für seine Bemühungen um die Demokratisierung und den nationalen Dialog nach der Revolution mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

    Präsident Kaïs Saïed gab im September 2021 gegenüber der Öffentlichkeit an, die 2014 verabschiedete Verfassung „reformieren“ zu wollen.[27] Der Verfassungsentwurf sieht eine Ausweitung der Macht des Präsidenten gegenüber dem Parlament und der Justiz vor. Der Präsident kann Abgeordneten ihr Mandat aberkennen und setzt die Richter des Verfassungsgerichtes ein. Damit wird das Prinzip der Gewaltenteilung eingeschränkt.[28] Am 25. Juli 2022 wurde ein Volksentscheid über die Verfassung durchgeführt. Der Verfassungsentwurf wurde mit 94,6 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen. Die Opposition hatte dazu aufgerufen, die Abstimmung zu boykottieren. So lag die Wahlbeteiligung bei nur 30,5 Prozent.[29] Es war die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Wahl in Tunesien seit der Revolution 2010/2011.[28]

    Frauenrechte

    Gleichberechtigung von Frauen und Männern war in der Verfassung ein wichtiges Thema. Frauenförderung ist seit Mitte der 1950er Jahre ein Bestandteil der tunesischen Politik. Bereits 1956, nach der Unabhängigkeit, wurden in Tunesien Frauen weitgehend gleichberechtigt, sie durften wählen gehen und die Scheidung einreichen; lediglich das islamische Erbrecht, in dem Söhnen höhere Anteile als Töchtern zustehen, wurde beibehalten. Inzwischen stellen die neuen Artikel 20 und 45 Männer und Frauen nicht nur vollkommen gleich, sondern garantieren auch Chancengleichheit und sprechen sich dafür aus, dass eine bestimmte Zahl der Sitze in Stadt- und Landräten an Frauen vergeben werden muss.[30] Dennoch wurde der ‚Staatsfeminismus‘ von tunesischen Frauenbewegungen kritisiert, da trotz aller staatlichen Bemühungen weiterhin Benachteiligung von Frauen bestehe.[31]

    Ahmed Moro, Bernard Kalaora: Le désert: de l’écologie du divin au développement durable. Paris 2006, ISBN 2-7475-9677-X, S. 110. Paul Sebag: Tunis. Histoire d’une ville, éd. L’Harmattan, Paris 2000, ISBN 2-7384-6610-9, S. 87. François Decret: Les invasions hilaliennes en Ifrîqiya, Clio, septembre 2003 (Memento vom 15. Mai 2011 im Internet Archive) Hendrik Lodewijk Wesseling: Teile und herrsche: Die Aufteilung Afrikas 1880–1914, Stuttgart 1999, ISBN 3-515-07543-7, S. 23ff Philippe Conrad: Le Maghreb sous domination française (1830–1962). Januar 2003. Mart Martin: The Almanac of Women and Minorities in World Politics. Westview Press Boulder, Colorado, 2000, S. 385. Assembly of People's Representatives. In: data.ipu.org. Interparlamentarische Union, abgerufen am 13. April 2023 (englisch). Tunesien: Innenpolitik. Auswärtiges Amt, abgerufen am 25. Dezember 2009. theeuropean.de Der Standard: Knapp 90 Prozent für Präsident Ben Ali, 25. Oktober 2009. Erst ständig Bussen, dann eine Ohrfeige. In: Tages-Anzeiger, 21. Januar 2011 Pierre Tristan: Wikileaks Cable: Tunisian Corruption and President Zine el-Abidine Ben Ali. middleeast.about.com, abgerufen am 15. Januar 2011 In Analogie zu anderen Farbrevolutionen (z. B. Rosenrevolution in Georgien (2003)) bekam sie im Ausland den Namen „Jasminrevolution“. Der Jasmin ist Tunesiens Nationalblume. Schon Ben Ali hatte die Absetzung seines Vorgängers Bourguiba im Oktober 1987 als „Jasminrevolution“ bezeichnet. Übergangs-Präsident ernannt – Militär greift ein. Abgerufen am 15. Januar 2011.; vgl. auch Verfassungsrat ernennt Parlamentspräsidenten zum Interims-Staatspräsidenten. Abgerufen am 15. Januar 2011. Regierung will Pressefreiheit und Amnestie. RP Online, 17. Januar 2011 Tunesien auf dem Weg zu neuer Verfassung. (Memento vom 17. Januar 2012 im Internet Archive) Zeit Online, 4. März 2011. Historische Abstimmung – Tunesien geht zur ersten freien Wahl. Spiegel Online, 23. Oktober 2011 sueddeutsche.de derstandard.at Land der Paradoxe. In: Der Spiegel. Nr. 34, 2012 (online – Die Autorin Souad Ben Slimane über die Ängste der Frauen in ihrer Heimat und eine Gesellschaft, die sich moderner gab, als sie war). Tunesien: Ein alter Mann für die junge Revolution, Der Standard, 22. Dezember 2014 Habib Essid soll Tunesiens neuer Premier werden, Der Standard, 5. Januar 2015 François Hollande, zitiert nach Michaela Wiegel. In: FAZ, 6. Februar 2014, S. 2. Deutsch-Tunesische Gesellschaft, 27. Januar 2014 Freedom in the World 2015 https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2017/tunisia#a1-pr Tunisia president indicates plans to amend constitution. In: Aljazeera. 12. September 2021, abgerufen am 13. September 2021 (französisch). ↑ a b Hans-Christian Rößler: Nur gut ein Viertel ging zur Wahl. Tunesiens neue Verfassung tritt unabhängig von der Wahlbeteiligung in Kraft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juli 2022, S. 4. tagesschau.de: Nach Referendum: Tunesiens umstrittene Verfassung angenommen. Abgerufen am 27. Juli 2022. Deutsche Welle, 25. Januar 2014 Anne Françoise Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegung in Tunesien. Deutsches Orient-Institut, Hamburg 2001 (Mitteilungen 62), ISBN 3-89173-064-0
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  • Sicherheit Das Österreichische Außenministerium hat zu diesem Land eine Reisewarnung veröffentlicht (Weblink)
    Aufgrund der terroristischen Anschläge nunmehr auch in Touristengebieten muß mit einem erhöhten Sicherheitsrisiko im ganzen Land gerechnet werden. Weiterhin gilt erhöhtes Sicherheitsrisiko im Zentrum von Tunis, in anderen größeren Städten im Falle von Demonstrationen und Massenansammlungen und in den zentraltunesischen Landesteilen. Aktuelle Sicherheitshinweise. Datum der letzten Reisewarnung: 26.04.2019.Notrufe

    Feuerwehr: ☎ 198
    Notarzt: ☎ 190
    Touristenpolizei: ☎ 197
    Notruf des nationalen Tourismusbüros: ☎ +216 71 105 405

    Die Sicherheit in Tunesien ist im allgemeinen gut. Die Kriminalitätsrate ist gering, hat aber zugenommen, aber man muss als Tourist auf keinen Fall Angst haben. Die Regierung ist sich der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus bewusst, zur Hochsaison wird die Polizeipräsenz in den Hauptreisezielen verstärkt. Man sollte trotzdem normale Sicherheitsvorkehrungen einhalten, nicht mit Schmuck behängt herumlaufen, keinen Geldbeutel in der Gesäßtasche tragen, keine großen Geldbeträge usw. mitführen. In der Kriminalitätsstatistik überwiegt Taschendiebstahl mit rund 85%. Als Frau sollte man jedoch dunkle Gassen und so weiter nur in männlicher Begleitung durchgehen.

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    Sicherheit Das Österreichische Außenministerium hat zu diesem Land eine Reisewarnung veröffentlicht (Weblink)
    Aufgrund der terroristischen Anschläge nunmehr auch in Touristengebieten muß mit einem erhöhten Sicherheitsrisiko im ganzen Land gerechnet werden. Weiterhin gilt erhöhtes Sicherheitsrisiko im Zentrum von Tunis, in anderen größeren Städten im Falle von Demonstrationen und Massenansammlungen und in den zentraltunesischen Landesteilen. Aktuelle Sicherheitshinweise. Datum der letzten Reisewarnung: 26.04.2019.Notrufe

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    Die Sicherheit in Tunesien ist im allgemeinen gut. Die Kriminalitätsrate ist gering, hat aber zugenommen, aber man muss als Tourist auf keinen Fall Angst haben. Die Regierung ist sich der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus bewusst, zur Hochsaison wird die Polizeipräsenz in den Hauptreisezielen verstärkt. Man sollte trotzdem normale Sicherheitsvorkehrungen einhalten, nicht mit Schmuck behängt herumlaufen, keinen Geldbeutel in der Gesäßtasche tragen, keine großen Geldbeträge usw. mitführen. In der Kriminalitätsstatistik überwiegt Taschendiebstahl mit rund 85%. Als Frau sollte man jedoch dunkle Gassen und so weiter nur in männlicher Begleitung durchgehen.

    Homosexuelle Handlungen sind verboten und mit 3 Jahren strafbewehrt. Prostitution, die seit 2011 noch mehr beschränkt wurde, ist in konzessionierten Bordellen („maisons closes”) unter stark kontrollierten Bedingungen zulässig. Kondome sind Vorschrift, die Damen werden zwei Mal wöchentlich ärztlich untersucht. Wer entsprechende Dienstleistungen ohne Genehmigung anbietet, aber auch wer sie in Anspruch nimmt, kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren bestraft werden.

    Die Nutzung von Drohnen ist untersagt. Militärisches sollte man gar nicht, Uniformierte nur mit Zustimmung photographieren.

    In den südlichen Landesteilen (Wüste) ist die Mobilfunkabdeckung gering. Autofahrten ins abgelegene Gebiet sollten bei der Gendarmerie angemeldet werden.

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